Frido Mann (geb. 1940) im Gespräch mit Miep Gies (1909–2010) und ihrem Mann Jan (1905–1993)

Im Februar 1990 sprach Thomas Manns Enkelsohn mit der Helferin der Familie Frank.

Das Interview blieb bis heute unveröffentlicht.

… über ihre Begegnungen mit deutschen Schülern

Frido M: Welche Fragen stellen Ihnen Schüler und Schülerinnen am häufigsten?

Miep G: Zuerst erzähle ich immer, wie die Judenverfolgung in Holland angefangen hat. Dazwischen erkläre ich natürlich, wie wir das empfunden haben, wie Herr Frank mich gefragt hat, ihm zu helfen, und wie ich Anne zu jener Zeit empfunden habe. Dann spreche ich über den 4. August 1944, den Tag der Verhaftung. Erst dann sage ich zu den Schülern: Jetzt könnt ihr mich fragen, was ihr wollt. Zuerst herrscht Stille, und wenn die erste Scheu überwunden ist, geht es los. In deutschen Schulen ist die erste Frage eigentlich immer: Hassen Sie die Deutschen? Dann sage ich ganz offen und ehrlich: Ich habe euch gehasst. Und wie! Aber auch ich habe dazugelernt – ich lernte auch ehemalige deutsche Widerstandskämpfer kennen. Das war in den frühen 1960er Jahre.

FM: Wann trauten sie sich das erste Mal nach Deutschland?

MG: Angefangen hat es mit einem Verlag in Bern: Scherz. Man fragte an, ob ich vielleicht bereit wäre, mit Schülern zu sprechen. Danach kam eine Anfrage nach der anderen.  Für die Lehrer ist es oft sehr schwer, den Kindern zu erzählen, was passiert ist. Und sie wissen ja auch nicht alles. Ich bekomme von vielen deutschen Kindern Briefe. ‚Ich frage meinen Vater und Großvater, was eigentlich passiert ist‘, schreiben sie, aber mehr als ‚Ich bin an der Front gewesen‘ bekommen sie nicht zu hören.

Zuerst waren natürlich beide Seiten etwas befangen. Die Lehrer waren besorgt, was ich wohl sagen würde. Aber ich komme ja nicht, um die deutsche Jugend anzuklagen. Ich kann von ihr nicht verlangen, um Verzeihung zu bitten, wofür sie keine Schuld trägt. Wenn ich das sage, geht der Applaus los. Dann setze ich fort: Aber vergesst nicht auf eure Geschichte und vergesst nicht unser Leid. So ziehe ich sie auf meine Seite. Wir müssen die Jugendlichen gewinnen.

…über ihre Tourneen auf der ganzen Welt

FM: Wie viele Auftritte machen sie inzwischen (1990)?  Fahren Sie da zusammen hin?

Jan G: Ich habe zu Miep gesagt, du kannst das machen, aber ich komme mit. Ich bleibe nicht allein zu Hause sitzen. So haben wir es auch mit Amerika gemacht, z.B. New York.

MG: Wenn wir innerhalb einer Woche drei bis vier Städte besuchen müssen, dann ist es nicht angenehm, allein zu sein. Das geht gar nicht.

FM: Machen Sie ganze Tourneen?

MG: Ja, nicht nur eine. Wir sind sehr viel unterwegs.

…über Mieps Bild von Anne Frank

FM: Beim Lesen Ihres Buchs [Miep Gies mit Alison Gold: Meine Zeit mit Anne Frank]  habe ich mich gefragt: Hat sich Ihr Verhältnis zu Anne geändert in dem Moment, als Sie das Tagebuch gelesen haben? Oder anders gesagt: Hatte Annes Tagebuch von Anfang an diese große Bedeutung für Sie? Oder hat erst der große Erfolg des Tagebuchs Ihren Blick verändert?

MG: Ich habe Anne beim Schreiben erwischt. Das vergesse ich nicht. Sie fand das schrecklich. Ihre Mutter [Edith Frank] hat dann die Situation gerettet. Das war fantastisch von ihr. Frau Frank war eine sehr liebe, sehr intelligente Frau. Wenn sie während dieser zwei Jahre im Versteck mal den Mut verlor, war das zu verstehen. Auch Anne hatte zu kämpfen. Während sie eingeschlossen war, ist sie eigentlich viel zu schnell gewachsen. Sie musste so viel verarbeiten. Ich habe ihr immer genau erzählt, was draußen geschah. Eines Tages sagte mein Mann: Du sollst ihr nicht mehr so viel erzählen. Aber sie hat es doch herausbekommen. Das war ihre Schlauheit.

… über Anne Franks Tagebuch

FM:  Was war entscheidend für Ihren persönlichen Bezug zum Tagebuch?

MG: Wir wussten, dass Anne Tagebuch schreibt. Das war allgemein bekannt.  Ich bin nicht darüber erschrocken, dass sie da schrieb, oder habe mir spezielle Gedanken darüber gemacht. Es war einfach so. Sie schrieb! Und sie wollte dabei in Ruhe gelassen werden.

FM: War Anne für sie von Anfang an eine herausragende Person?

MG: Mir fiel auf, wie lebhaft sie war und dass sie sich immer für alles interessierte. Sie wollte Gespräche führen. Und wen sie erwischen konnte, den erwischte sie. Und weil ich wahrscheinlich auch ein bisschen lebhaft war und ihr viel erzählen konnte, war ich oft ihr Opfer. Aber das hat mich nicht gestört.

FM: Manchmal ist es doch so, dass man erst im Nachhinein das Besondere an jemandem erkennt. Aber Sie sagen, dass Anne von Anfang an etwas ganz Eigenes in dieser Familie, in dieser Gruppe war?!

MG: Mit Margot und Peter haben wir nie gesprochen.

JG: Jedenfalls fast nicht.

MG: Das kam daher, dass sie uns nichts gefragt haben. Wir hatten kein Gespräch miteinander. Anne drängte sich vor. Umso schwerer war es nachher für mich, das Tagebuch zu lesen. Das hat mich sehr viel Mühe gekostet.

Aber nachdem ich es schließlich gelesen hatte, war es eine Erleichterung für mich.  Ich habe ja erst die zweite Auflage gelesen. Davor hat der Herr Frank mit mir geschimpft. Er wohnte [nach dem Krieg] sieben Jahre bei uns [bevor er in die Schweiz zog].

FM: Haben Sie eigentlich noch irgendwelche Gegenstände von Anne?  Außer dem Tagebuch?

MG: Wir haben Verschiedenes; …die Einkaufsliste von Herrn van Daan [van Pels]. Zufälligerweise habe ich sie nach dem Krieg gefunden. Und Annes Frisiermantel. Der ist nie gewaschen worden. Nein, das kann ich nicht. Und der Schuhsack … damit die Schuhe auf der Reise nicht beschädigt werden. Und von Frau Frank habe ich eine Puderdose. Fühlen Sie mal, wie schwer die ist. Die habe ich von Herrn Frank bekommen.  Der hat sie irgendwo gehabt oder gefunden. Und dann diesen Judenstern. Der ist aber nicht von der Familie Frank, sondern von der Frau [Stoppelmann], in deren Wohnung wir gewohnt haben.

… über die anderen Helfer

FM:  Elli [Voskyul] lebt nicht mehr?

JG: Niemand lebt mehr. Nur wir zwei.

MG:  Die zweite Frage aus dem Publikum ist immer: Wie verarbeiten Sie das eigentlich heutzutage? Wir haben natürlich unsere schweren Augenblicke. Aber es ist ein Trost für uns, dass wir damals nicht zu- oder weggeschaut haben, sondern eingesprungen sind, um den Menschen zu helfen. Der Gedanke hilft uns. Das Leben hat uns leben lassen. Mit diesen Gedanken gehen wir weiter.

… über Anne Frank als Schriftstellerin

FM: Für mich als Außenstehenden hat es sich so dargestellt, dass Anne das letzte halbe Jahr mit großer Zuversicht, Vertrauen, positiver Haltung schreibt, schreibt, schreibt … bis zum Schluss.

MG:  In ihren Gedanken führte sie ihr Leben schon weiter …

FM:  Das kann auch der Nachwelt helfen, als Vorbild.

MG: Das stimmt, und ich merke es ständig. Ich bekomme so viele Briefe … Die Anne Frank Stiftung in Amsterdam sagt, dass sie mir beim Beantworten der Briefe helfen will, aber das geht nicht….

… über ihr eigenes Buch

FM: Haben Sie eigentlich nach der Veröffentlichung des Tagebuchs noch neue Zeugen und Stimmen gehört? Es ist doch so vieles im Unklaren geblieben, was nach dem vierten August geschehen ist bis zum März 1945….

MG: Ich habe sehr große Angst gehabt. Und ich wollte selbst niemals ein Buch schreiben. Es wurde immer wieder danach gefragt. Aber wir sagten immer, es gibt das Tagebuch. Wir haben nur unsere menschliche Pflicht getan. Unserem Nächsten geholfen, der in Not war.  Soviele Menschen machten diese  Arbeit. Warum wir? Ich möchte nicht im Vordergrund stehen. Aber wir können nichts dafür, dass wir – zufällig – ausgerechnet einer Anne Frank geholfen haben.  Und dass diese Anne Frank unsere Namen in ihr weltberühmtes Tagebuch schrieb.  Zuerst stürzten sich alle auf Herrn Frank, und dann auf uns. Wir wollten kein Buch machen, niemals. Aber dann kam eines Tages Alison Gold aus Los Angeles und sagte, wir sollten ein kleines Büchlein machen für die Kinder in den amerikanischen Schulen.  Ahnungslos habe ich meine Unterschrift gegeben, und gleich am nächsten Tag ist ihre Agentin nach New York geflogen zu Simon & Schuster … Ich konnte nicht mehr zurück. Ich hätte alles gegeben, um es rückgängig zu machen. Alison merkte das. Sehr ist eine sehr kluge Frau. Sie schrieb alles auf. Sie schickte es uns. Wir verbesserten. Da sagte sie: Ja, Miep, ich sehe, es fällt dir schwer. Du musst aber bedenken, die Menschen, die das Tagebuch lesen, wollen auch wissen, wie es hinter der Tür aussah. Wie ihr es geschafft habt. Das leuchtete mir ein und hat mich etwas getröstet.

Das Buch erschien zuerst auf Englisch. Die holländische Übersetzung wollte ich hinauszögern. Ich hatte Angst! Dann sagte mir der amerikanische Verlag, dass die holländischen Journalisten ohnehin aus dem amerikanischen Buch zitieren würden.  Und: Sei es nicht merkwürdig, eine wahre Geschichte zurückzuhalten in dem Land, in dem sie passiert ist? Ich wollte immer noch nicht, aber mein Mann meinte: Ja, lass es uns machen. Am Tag, bevor das Buch in die Buchhandlungen kam, war hier ein großes Interview vom Fernsehen. Eine Dreitviertelstunde habe ich erzählt.  Ich fürchtete, ganz Holland würde über mich herfallen. Aber ich täuschte mich. Ich bekam viele Briefe von Holländern: Wir sind froh, dass wenigstens eine beschrieben hat, wie wir hier in der Besatzungszeit gelebt haben.

… über Annes letzte Lebensmonate im Konzentrationslager

FM: Hat es noch Hinweise auf Annes Tod gegeben?

JG: als die Frau des Zahnarztes Dussel [Fritz Pfeffer] starb, steckte die Nachbarin alles in einen Sack  und bestellte einen Entrümpler, der alles auf den Flohmarkt brachte. Und zufälligerwieise ging eine Mitarbeiterin der Anne Frank Stiftung [Joke Kniesmeijer] immer auf den Flohmarkt und sie fand das: Den Abschiedsbrief von Dussel. Photos. Ein Reisetagebuch.

MG: Durch die Brilleslijper-Schwestern haben wir erfahren, wie es Anne und Margot in Bergen-Belsen ging. Sie lagen in der Baracke gleich am Eingang. Margot war sehr schwer krank. Es war kein guter Platz für sie. Sie wurde durch die kalte Luft noch viel elender.  Eine der Schwestern hat Anne aufgefordert, zu essen. Aber Anne wollte nicht mehr. Sie war ganz bedeckt mit Wunden, in denen Läuse herumkrochen. Die Frau sagte, manchmal bin ich hingegangen, wenn ich meine Schwester allein lassen konnte.  Anne wollte nicht mehr aufstehen.

FM:  Die so starke Anne….

MG: …sie war ganz einfach zu geschwächt.

… über das Tagebuch von Margot Frank

FM: Es wird im Tagebuch erwähnt, dass Margot Frank auch ein Tagebuch geführt hat.

MG: Das haben wir nicht gefunden. Vielleicht hat es irgendwo gelegen und wir haben es nicht gesehen.

FM: Haben Sie Margot jemals schreiben sehen?

MG:  Nein… Und wir hatten solche Angst, dass der Österreicher [ Karl-Josef Silberbauer] noch einmal zurückkommen würde. Aber ich habe ihn doch geschlagen, mit einem Satz.

FM: Meinen Sie Ihren Satz: „Ich komme auch aus Wien.“

MG: Jaja, der Mann blieb wie festgenagelt stehen.

… wie Miep Gies nach Holland kam

FM: Sie sind von Ihrer holländischen Gastfamilie nach dem Ersten Weltkrieg gesetzlich adoptiert worden?

MG: Ich war ursprünglich nur für drei Monate gekommen. Aber der Arzt sagte, wenn sie zurückgeht, wird sie gleich wieder krank.

… über die Konflikte im Hinterhaus

FM: Was mir noch aufgefallen ist: Im Ihrem Buch erwähnen Sie wenig davon, was Anne über die Konflikte im Hinterhaus schrieb…

MG: Ich wusste auch nicht alles, was da oben passiert. Die Untertaucher wollten uns Helfer so wenig wie möglich belästigen. Sie sagten, Ihr habt es schon schwer genug. Aber von Herrn und Frau Frank wusste ich schon manches, was es an Schwierigkeiten gab mit Frau van Daan [Auguste van Pels], aber längst nicht alles.

Frau Frank hatte am meisten Angst von allen. Aber sie konnte mit niemandem darüber sprechen. Einmal hat sie mich erwischt, da war ich sozusagen ihre Klagemauer. Aber ich konnte ihr auch keine Antwort geben. Ich musste ja auch viel für mich behalten. Die Franks wussten zum Beispiel nicht, dass wir zu Hause einen Studenten versteckten. Das hätte Herr Frank niemals akzeptiert. Er sagte immer, wenn ihr von der Gestapo erwischt werdet, dann werdet ihr zugerichtet, bis ihr alles zugebt …

… über die Beziehung von Anne Frank zu Peter van Pels

FM: Haben Sie mitbekommen, dass Anne und Peter sich näherkamen?

MG: Nein. Darüber wurde absolut nicht gesprochen. Nur als Anne Geburtstag hatte, fragte mich Peter, ob ich Blumen für Anne besorgen könnte. Weiter wurde nichts gesagt. Man wollte uns schonen, so gut es ging.

FM: Das heißt, Sie haben von Peter erst erfahren, als Sie das Tagebuch lasen?

MG: Ja, natürlich war ich überrascht. Aber im Tagebuch fühlt man, dass Anne jemanden, irgendjemanden haben wollte. Und da hatte sie eben Peter gefunden.  Aber weil Peter intellektuell nicht auf derselben Höhe stand wie sie, war das bald wieder vorbei. Und so sah ich Peter auch.  Ich konnte mir das genau vorstellen. Er war ein liebenswerter Junge. Schon Margot sagte sich ja: Ich sehe keine Gefahr, mich in Peter zu verlieben, denn er ist mir nicht überlegen. Margot hat es schon vorhergesagt. Anne hat es dann hinterher gemerkt.

FM: Haben Sie zu jener Zeit, auch wenn Sie nichts von Peter wussten, eine Veränderung an Anne gemerkt? Dass sie irgendwie erwachsener wurde?

MG: Etwas stiller wurde sie. Ob es mir gleich auffiel, das kann ich nicht sagen, denn wenn ich aus dem Hinterhaus hinunter ins Büro kam, fragten Koophuis und Kugler mich immer: Hat sie dich auch so viel gefragt? Ich werde müde davon. Da habe ich geantwortet: Lass uns doch froh sein, dass sie fragt.  Stellt euch vor, sie sagt, ich halte es nicht mehr aus. Ich will raus. Was machen wir dann? So sah ich es.

… über Annes Reife

FM: Anne hat im letzten halben Jahr im Versteck so viel geschrieben wie in den eineinhalb Jahren vorher.

MG: Man kann sagen, sie wurde erwachsen. Sie kam als Kind und ging als Dame. Sie wurde zurückgezogener und schrieb mehr.

FM: Es gibt aber keine Aufnahmen von ihr im Versteck?

MG: Das hat Herr Frank nicht erlaubt. Was Herr Frank nicht erlaubte, geschah nicht. Herr Frank war ein sehr nervöser Mensch. Aber im Versteck, da war ich überrascht, wie ruhig er war. Er übernahm sozusagen die Führung. Wenn es ein Problem gab, wurde es immer mit Herrn Frank besprochen. Und wie es Herr Frank sagte, so geschah es.

Ich wollte mit Anne zum Augenarzt gehen. Wir warten einen Tag, bestimmte Otto. Am nächsten Tag sagte er: Nein Miep, es ist zu gefährlich. Das habe ich zwar verstanden, aber ich denke auch heute noch, dass der Gang zum Arzt möglich gewesen wäre.

© Frido Mann.

Mit Dank an Frido Mann für das Recht zur Erstveröffentlichung.