Mit Traudl Junge beim Münchner Oberbürgermeister Christian Ude
Erschienen in der Süddeutschen Zeitung
Das Vorzimmer des Münchner Oberbürgermeisters. Schön daran ist der Blick hinunter auf Marienplatz und Fußgängerzone. Handwerker schrauben die ersten Christkindlmarktbuden zusammen. Ein ungemütlicher Novembertag vor knapp drei Jahren.
Ich habe mich bei Christian Ude angemeldet, um mit ihm über die Beziehung zwischen seiner Familie und „Hitlers letzter Privatsekretärin“ Traudl Junge zu sprechen. Er will sie bei dem Gespräch dabei haben. Sie kommt also mit, ungern, denn was sie am wenigsten leiden kann, ist Getue um ihre Person. Aber nun hat sie sich endlich dazu durchgerungen, ihre Erinnerungen in Buchform zu veröffentlichen. Nun muss sie eben den „Christian von der Arbeit abhalten“, wie sie sagt; ihrer Co-Autorin zuliebe, die eineinhalb Jahre beharrlich auf sie eingeredet hat, bis sie – trotz anhaltender Zweifel – den Mut fasste, ihre Aufzeichnungen aus den Jahren 1947 und 1948 einem Verlag anzuvertrauen.
Wir sitzen also an einem kleinen Tisch im Erker des Büroraums und warten auf den OB. Traudl Junge ist 81 Jahre alt, ihre lebhaften Augen lassen sie jünger wirken. Wie gewöhnlich trägt sie Hose und Pullover, beide schnickschnacklos modisch, ihr weißes Haar zu einem Knoten im Nacken gebunden, korrekt, aber nicht streng, an diesem Tag zudem einen dezenten Lippenstift. Möglichst beiläufig zieht sie ein weißes Stofftuch aus ihrer Tasche, nimmt ihre Brille ab und wischt geschwind den Schweiß von Haaransatz und Gesicht. „Grauenhaft, diese ständige Schwitzerei.“ Sie klagt nicht, sondern klingt, als ob sie es sich übel nimmt, dass ihr Körper mit Schweißausbrüchen reagiert, wenn ihr Geist sich nicht einwandfrei wohl fühlt. „Der Christian war noch ein kleines Kind, als ich für seinen Vater gearbeitet habe. Erwarten Sie sich nicht zuviel von dem Gespräch.“
Traudl Junge lernte den Schriftsteller Karl Ude 1948 kennen, als sie gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrer Schwester Inge in der Schwabinger Bauerstraße unterkam – illegal, wie ihr das Wohnungsamt später vorwarf. Von dem ursprünglich vierstöckigen Haus waren nach Bombeneinschlägen nur noch das Erdgeschoß und wenige Mauern des ersten Stockwerks übrig geblieben. Die Ruine war mit dem Vermerk „Totalschaden“ aus den Akten des Wohnungsamts gelöscht worden. Die drei Frauen übernahmen zwei Zimmer im Erdgeschoß, aus Pappe bastelten sie sich das sprichwörtliche Dach über dem Kopf. Im ersten Stock des Hauses hatte Karl Ude sich zwischen den Mauerresten ein Büro eingerichtet. Von dort aus gab er unter anderem die Literaturzeitschrift „Welt und Wort“ heraus. Traudl Junge wurde Karl Udes Sekretärin – und eine Freundin der Familie.
Wir warten also auf den OB und überbrücken die Zeit mit geflüsterten Gesprächsplittern über Politik. „Karl Ude hatte großen Einfluss auf mein Denken“, erzählt Traudl Junge. Von ihm habe sie zu diskutieren und zu hinterfragen gelernt. Er habe sie auch für das Kulturforum der SPD begeistert. Das unterstütze sie nach wie vor. Warum sie nie der SPD beigetreten sei? Sie möchte auf keinen Fall einer Partei angehören, sagt sie. Traudl Junge war auch nie Mitglied der NSDAP. Außerdem wisse sie gar nicht, ob sie immer SPD wählen werde. Zeitweise habe sie stark zu den Grünen tendiert. Die hätten doch Ungeheures auf den Weg gebracht. „Aber eigentlich interessieren mich die allgemeinen Menschenrechte mehr als die Politik.“ Von ihrer bescheidenen Rente spendet sie einen Teil an Amnesty International.
Die Tür zum Büro des Oberbürgermeisters geht schwungvoll auf. Christian Ude heißt Traudl Junge so freudig und herzlich vertraut willkommen, wie selbst der professionellste Politiker es nicht simulieren kann. Er führt uns in sein ballsaalgroßes Büro und beginnt zu erzählen. Kein Fleckchen Braun habe er an Traudl erkennen können, seit er – bereits als Volksschüler politisch und historisch interessiert – mit ihr in ernsthafte Gespräche getreten sei. Über „München unterm Hakenkreuz“, auf dessen Spuren der Bub Christian Ude mit dem Fahrrad durch München fuhr, über die Zeit der späteren Wahltante bei Hitler, die Tage des „Untergangs“, Junges Verhaftung durch die Russen, den Zufall, nicht nach Sibirien deportiert worden zu sein, oder über die Flucht der Münchnerin aus Berlin in ihr geliebtes Bayern. „Durch ihre Erzählungen hat sich mein Bewusstsein geprägt, dass Adolf Hitler und der Zweite Weltkrieg nicht historische, übermächtige Ereignisse waren, sondern dass Politik sozusagen für mich greifbar nahe war“, so Ude.
Die Freundschaft zu Karl Ude und seiner Familie dauerte fort, nachdem Traudl Junge Anfang der fünfziger Jahre als Assistentin des Chefredakteurs zur Illustrierten „Quick“ wechselte. Und nachdem 1954 die Ruine in der Bauerstraße abgerissen und Traudl Junge eine Sozialwohnung in Moosach zugewiesen wurde. Der heranwachsende Christian Ude, mittlerweile ernst genommener Diskussionspartner am Tisch seiner Eltern, nahm Traudl Junge als „kritischeren und engagierteren Kopf wahr als viele andere, meist besser ausgebildete Menschen aus dem Bekanntenkreis“.
Ich werde Zeugin eines fröhlichen, über Strecken nachdenklichen Gesprächs zwischen alten Freunden, und ich freue mich, dass Christian Ude Junges Entscheidung unterstützt, mit einem Buch an die Öffentlichkeit zu gehen. Wie jedes Mal, wenn es um das Projekt geht, bringt sie eine Liste von Argumenten dagegen vor. Ihre mehr als fünfzig Jahre alten Aufzeichnungen, die sozusagen das Herz des Buchs werden und von biographischen Texten ummantelt, quasi beschützt werden sollen, kämen ihr jetzt kritik- und distanzlos vor, die Kurzsichtigkeit und Naivität des Mädchens Traudl Humps beschämten sie. Außerdem: Zu viele so genannte Zeitzeugen hätten bereits Erinnerungen publiziert. Was, bitte, sei im Zusammenhang mit Hitler noch ungesagt? Solle sie sich etwa in eine Reihe mit der Schäferhündin Blondi oder Hitlers Zahnbürste stellen? Selbstironie zählt zu Traudl Junges großen Stärken. Doch allen Ernstes: Welchen historischen Wert hätten die Aufzeichnungen überhaupt? Wäre nicht beispielsweise ihre Aussage, sie glaube, den Schuss gehört zu haben, mit dem Hitler sich ums Leben brachte, von mancher Seite angezweifelt worden? Hätte diese Seite nicht gemutmaßt, Traudl Junge habe dies allein zu Selbstdarstellungszwecken zu Protokoll gegeben? Warum solle sie nun ihre persönliche Vergangenheitsbewältigung zur Schau stellen? Und das Schlimmste: Wie solle sie mit der zu erwartenden Sensationsgier der Menschen, gar mit Beifall aus der falschen Ecke umgehen? Naja, ohnehin werde niemand so ein Buch kaufen. Und wenn doch? Niemals könne sie es verantworten, mit ihrer Vergangenheit Geld zu verdienen. Sollte das Buch also Leser finden, so werde sie sich eventuell eine neue Küchenzeile leisten. Die winzige Küchennische ihres Schwabinger Einzimmer-Appartements ist seit dem Einzug Mitte der fünfziger Jahre unverändert. Und sie möchte noch einmal zu Inge nach Australien fliegen; dorthin ist die jüngere Schwester bereits 1951 emigriert, jetzt ist sie schwer krank und kann nicht mehr reisen. Das übrige Geld, so es denn je anfalle, wolle sie Amnesty International spenden. Christian Ude verspricht, bei der geplanten Buchpräsentation in München einleitende Worte zu sprechen.
In Jour-Fixe-ähnlichen Treffen – über annähernd zwei Jahre in der Regel einmal wöchentlich – lerne ich Traudl Junge kennen und wertschätzen. Im Frühsommer 2000 erwähnt meine Lektorin, dass Hitlers letzte Privatsekretärin in München lebt. Seit Monaten gehe ich der Frage nach Hitlers Verhältnis zu seinen Lieblingskünstlern nach – vielleicht hat sie etwas dazu zu erzählen. Ihre Nummer steht im Telefonbuch, ich erreiche sie auf Anhieb. Zwei Tage später übergebe ich ihr einen vom Fahrradwind zerzausten Strauß aus Sonnen- und Kornblumen. „Mei, der ist aber nett“, lacht sie. „Wissen Sie, ich hasse diese kunstvoll arrangierten Zuchtblumengebinde.“ Sie lotst mich auf ihr hellbeiges Schlafsofa, das Zentrum ihrer Einzimmerwohnung. Im Lauf der Monate lerne ich, halbwegs bequem darauf zu sitzen, indem ich einige der Zierpolster gegen die Seitenlehne staple und mich vorsichtig daran lehne. „Zu mehr als einem Zimmer habe ich es nicht gebracht“, stellt sie fest. Wie ich es später noch oft an ihr erlebe, klagt sie nicht über ihr Schicksal, sondern beschuldigt sich gleichsam selbst, nicht mehr aus ihrem Leben gemacht zu haben. „Nach Kriegsende“ – da war sie 25 Jahre alt – „ging ich davon aus, dass das Schicksal noch Großes mit mir vorhat. Schließlich hatte es mich an die Seite Hitlers geschleudert und mich, nachdem alles zusammengebrochen war, so glimpflich davon kommen lassen.“ Von einem Schwarzweißphoto in einem der Buchregale lächelt ein fescher junger Mann in Uniform. „Das ist mein Mann“, sagt Traudl Junge knapp. Erst viel später erzählt sie Einzelheiten.
Hans-Hermann Junge war Hitlers Lieblingsdiener. Traudl Humps verliebte sich in den großen blonden Holsteiner. Hitler drängte die beiden zur Ehe. Hochzeit im Juni 1943. Viel zu früh, nach ihrem Geschmack. Aus Verliebtheit war noch keine Liebe geworden. Einen Monat später meldete er sich freiwillig an die Front. Wenige Urlaubstage konnten die Jungvermählten miteinander verbringen und sich vorübergehend näher kommen. Im August 1944 fiel Hans-Hermann in der Normandie. Witwe mit 24 Jahren. In den turbulenten letzten Kriegsmonaten steckte Traudl Junge den Schmerz erstaunlich schnell weg, doch sie heiratete nie mehr. Ihr Traum von einer eigenen Familie blieb unerfüllt.
Traudl Junge bringt Tee. Sie brüht ihn auf, wenn ich an ihrer Gegensprechanlage läute, und läßt ihn ziehen, bis sie mir die Wohnungstür im zweiten Stockwerke geöffnet hat. Nun setzt sie sich in einen Korbstuhl neben dem Sofa, mit dem Rücken zum Fenster. Ihre Augen seien ihre Schwachstelle, sagt sie, sie könne nicht ins Licht schauen. „Ich hätte es schon verstanden, wenn man mich nach dem Krieg bestraft hätte.“ Soviel uneingeforderte Selbstkritik, ja Selbstanklage höre ich aus dem Mund einer Mitläuferin zum ersten Mal. „Ich habe ja erstaunlicher Weise immer nur Wohlwollen erfahren. Es hat mich niemand beschimpft oder abgelehnt wegen meiner Vergangenheit. Das finde ich merkwürdig“, fügt sie ohne jede Koketterie hinzu.
Willig lässt Traudl Junge sich auf meine Fragen ein, und trotzdem ist mir klar: Sie muss sich dazu überwinden. „Wissen Sie, ich habe lange Zeit gedacht, ich muss mich schämen, dass ich Hitlers Sekretärin war. Auf einmal wurde ich als Zeitzeugin interessant und als Informationsquelle benutzt. Das hat mir Unbehagen verursacht, weil ich es nicht mit meiner inneren Situation vereinbaren konnte. Ich habe erzählt, was ich wusste, und musste mich nicht rechtfertigen.“ Ihr Verhältnis zu Adolf Hitler beschreibt sie mit schwer verdaulicher und ungemein beeindruckender Offenheit. „Er war mein angenehmster Chef.“ Ich schweige. Sie zündet sich eine Zigarette an. „Ich weiß heute“, fährt sie fort, „dass Hitler ein schrecklicher Verbrecher war. Aber ich kann nicht leugnen, was ich damals für ihn empfunden habe.“ Das sei vielen Menschen unangenehm, sie könnten es nicht verstehen. Sie zieht an ihrer Zigarette. „Rauchen schmeckt mir. Leider.“ Dann: „Vielleicht entsetzt es sie, wenn ich Ihnen sage, dass die Zeit bei Hitler die schönste meines Lebens war.“ Sie habe sich oft gefragt, warum das wohl so war. „Wir Mitarbeiter Hitlers waren wie eine große Familie. In meinem Zimmer hier fühle ich mich oft wie in Einzelhaft.“
Unser erstes Gespräch dauert nicht sehr lang, eine gute Stunde vielleicht. Meine Fragen zu Hitlers Lieblingskünstlern bleiben zum Großteil unbeantwortet. Seit Kriegsbeginn schaute Hitler sich keine Filme mehr an und gab keine Künstlerempfänge. Als ich gehe, lege ich meine Biographie der Anne Frank auf ihren Couchtisch. Ob ich wiederkommen dürfe, ich meine, falls ich noch Fragen hätte? Sie will sich nicht festlegen. „Ich kann ihre Fragen doch nicht beantworten.“ Zwei Tage später ruft sie mich an. „Ich habe mich in einer Nacht durch ihr Buch gequält“, sagt sie und klingt dabei fast vorwurfsvoll. „Schlaflos macht mich der Gedanke, dass ich mit ‚dem Führer’ Tee getrunken habe, während unschuldige Menschen wie dieses Mädchen sterben mussten.“ Schlaflos seit Jahrzehnten.
Am nächsten Tag sitze ich wieder auf ihrem Schlafsofa. Beim Gehen möchte ich mich für die folgende Woche einladen. „Lassen Sie uns telefonieren“, wehrt sie ab. „Ich weiß doch noch nicht, wie es mir nächste Woche geht.“ Auch das ist typisch für Traudl Junge. Seit etwa Mitte der sechziger Jahre kämpft sie gegen Depressionen, oft kostet es sie – trotz ihrer Sehnsucht nach Zwischenmenschlichem – größte Überwindung, Menschen zu treffen oder gar zu empfangen. Häufig wird sie unsere Gespräche erst absagen oder verschieben und sich dann doch wieder dazu aufraffen.
Als ich über Monate immer wieder nach Details aus ihrer Zeit als Hitlers Sekretärin frage, zieht sie eines Tages einen Stapel mit Maschine beschriebener A4-Blätter aus einer Schublade – ihre im zweiten und dritten Nachkriegsjahr verfassten Aufzeichnungen. Ich darf sie – mit dem Hinweis, dass ich sie gar nicht zu fragen brauche, ob sie sie nicht publizieren wolle – nach Hause nehmen und bin ebenso fasziniert wie entsetzt über ihre Unverfälschtheit und Unmittelbarkeit. Junges Hitler ist über weite Strecken ein sympathischer Mann. Ist das legitim? Unbedingt, denn wer Hitler und seine Helfer zu Monstern ohne menschliche Züge stilisiert, macht es sich zu leicht.
Februar 2002. „Bis zur letzten Stunde“ ist ausgeliefert. Im großen Saal des Münchner Literaturhauses haben sich etwa 400 Menschen eingefunden. Oberbürgermeister Christian Ude hat sein Wort gehalten. Seine Rede auf Traudl Junge ist liebevoll und überzeugend, ihr Buch bezeichnet er als ihr Vermächtnis. Sie selbst ist wenige Tage vorher gestorben – nach kurzem, schwerem Leiden, wie man in einem solchen Fall wohl sagt.